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Anzeichen der Verlässlichkeit

Veranstaltungszeitraum: 18. Oktober - 21. Dezember 2018

SBF Member Beat Schweizer

Vernissage: 18. Oktober 2018, ab 18.30 Uhr; 19 Uhr Einführung mit Beat Schweizer Eine Ausstellung im COALMINE Forum für Dokumentarfotografie, kuratiert von Sascha Renner

Wie lebt es sich in den polarnahsten Städten und Siedlungen der Welt? Und was hält die Menschen trotz scheinbar widrigen Bedingungen dort? Fragen wie diese interessieren Beat Schweizer (geboren 1982, wohnhaft in Bern) seit vielen Jahren. Auf mehreren Reisen in den Norden Russlands hat er die Morphologien dieser Orte fotografisch festgehalten, die Ursachen ihres Daseins, ihre Besonderheiten und Überlebensstrategien untersucht. Bedroht durch extremes Klima sowie geografische Isolation und am Leben gehalten von staatlichen Direktiven oder ökonomischen Interessen, präsentiert er uns Formen des Zusammenlebens, die über das Anekdotische hinaus tiefe Einblicke in das Menschliche geben. In seiner dokumentarischen Praxis nähert sich Beat Schweizer den Strukturen und Bewohnern behutsam und unmerklich. Mit seinem systematischen Blick fördert er im Einzelnen das Generelle und im Allgemeinen das Individuelle zutage, beweist aber auch ein waches Auge für die Komik, Tragik und Absurdität des Alltäglichen – ein feines Sensorium für die «Anomalie des Alltags im nördlichsten Norden Sibiriens», wie es im Untertitel einer seiner Eigenpublikationen heisst.

Norilsk («Michailovna hat angerufen», 2017/18)

Norilsk ist eine Stadt der Superlative: Sie ist die nördlichste Grossstadt der Erde, über dem Polarkreis, auf 69 Grad nördlicher Breite gelegen, gebaut auf Permafrost-Boden. Sie gilt auch als die schmutzigste Stadt der Erde, denn die dortigen Nickelerze verursachen bei der Förderung Schäden an Umwelt und Gesundheit. Zusammen mit den Vorkommen auf der Halbinsel Kola deckt Norilsk rund einen Viertel des Weltmarktbedarfs an dem Rohstoff, der in diversen Legierungen und vor allem zur Erzeugung von nichtrostendem, hochbelastbarem Stahl verwendet wird. Bodenschätze und Industrie bieten mit ihren gut bezahlten Arbeitsplätzen und einer städtischen Infrastruktur, die dem polaren Klima Annehmlichkeiten abtrotzt, Lebensraum für 175’000 Menschen. Gleichwohl wahrt die als Minenstadt 1935 gegründete und unter Stalin als Gulag genutzte Stadt weiterhin ihr Geheimnis: Sie ist für Ausländer geschlossen und nur mit einer Sonderbewilligung betretbar.

Eine solche erlaubte es Beat Schweizer, sich frei in der Stadt zu bewegen. Dennoch stellte eine Bekannte, eine ehemalige Polizistin bei der Flughafenpolizei, mit einem Anruf sicher, dass sich die Einreise ohne Umtriebe vollzog («Michailovna hat angerufen») – eine Anekdote bloss, die aber zeigt: wo alles bürokratisch abläuft, vieles unmöglich scheint und doch alles möglich ist, sind die persönlichen Beziehungen entscheidend. Mit seiner Mittelformatkamera hielt Schweizer in sorgfältig komponierten Einstellungen das städtische Gepräge fest, Häuserzüge, Plätze und Naherholungsgebiete. Das Spiel mit Distanz und Nähe setzt sich fort mit Porträts und Innenansichten, welche die Bewohner bei der Freizeitgestaltung, Gedenktagen oder Schönheitswettbewerben zeigen. Es entsteht das Bild eines auf sich bezogenen und sich selbst genügenden Kosmos, der jedoch von auswärtigen Interessen geleitet und ohne Wirtschaftskonjunktur sowie Anreize und Garantien aus Moskau nicht fortbestehen könnte. Es sind diese Abhängigkeiten und ihre fragile, fragliche und fragwürdige Beständigkeit, denen der Fotograf nachspürt und auf die sich auch der Ausstellungstitel bezieht: «Anzeichen des Verlässlichen».

Dikson («An der Frostgrenze», 2013)

Während Norilsk als städtisches Zentrum einen Anschein von Normalität wahrt, trifft dies auf Dikson, an der Mündung des Jenissei, auf über 73 Grad nördlicher Breite, nicht zu. Der Aussenposten der Zivilisation, der einen Eisbären im Wappen trägt und den die Polarnacht an 82 Tagen in Dunkelheit hüllt, war in der Sowjetzeit die nördlichste Stadt weltweit, bis ihre Einwohnerzahl und Bedeutung drastisch sanken. Einst Angelpunkt für die Nordostpassage und die Kontrolle über die Arktisregion sowie Ausgangspunkt vieler Polarexpeditionen, bietet Dikson heute nur noch wenigen hundert Menschen ein Auskommen. Da die Provinzhauptstadt Krasnojarsk 2507 Kilometer entfernt liegt, sehen sich die Einwohner überwiegend auf sich allein gestellt. Besucher, auch russische, benötigen generell eine Sondererlaubnis. Die Menschen, die Beat Schweizer dort aufsuchte, leben entweder als Mechaniker oder Grenzschützer, betreiben einen Einkaufsladen im Dorf oder übermitteln Wetterdaten nach Moskau – alles ermöglicht und gewollt durch den Staat in der Absicht, die nördliche Aussengrenze des Mutterlands zu sichern. Wir sehen sie bei der Arbeit oder dabei, wie sie ihre Frei- und Wartezeit verbringen, mit Jagen und Fischen, Grillen, Spielen oder Fernsehen.

Teriberka («Der Boiler», 2012)

Weniger vergessen fühlten sich die Bewohner von Teriberka, der dritten Ansiedlung, die Beat Schweizer im Rahmen seines epischen Langzeitprojekts besucht hat. 69 Grad Nord gelegen, ist sie seit dem Niedergang der Küstenfischerei weitgehend entvölkert. Vor einigen Jahren jedoch kündigte der russische Konzern Gazprom riesige Investitionen und Tausende Arbeitsplätze an. Eines der grössten Gasvorkommen, das Stockmann-Feld in der Barentsee, sollte erschlossen werden. Ein Teil der Einwohner machte sich Sorgen um die Umwelt. Viele freuten sich auf die reiche Zukunft. Doch das Projekt wurde auf Eis gelegt, aus Kostengründen – der Schiefergasboom in den USA machte die Gasförderung in der Arktis nicht konkurrenzfähig. So kämpfen die Bewohner von Teriberka weiterhin gegen ihre Bedeutungslosigkeit. Wie auch andernorts führt uns Beat Schweizer mit ausgewählten Protagonisten in ihre Lebenswelt ein. Zum Beispiel mit dem Heizer, dessen einzige Aufgabe darin besteht, Steinkohle in den Schlund eines Ofens zu schaufeln und so das ganze Dorf mit Wärme zu versorgen, während er seine Lebenslast und Langeweile in Schwermut und russischen Fernsehserien ertränkt.

Beat Schweizers dreiteilige Dokumentation ist eine warmherzige Bestandsaufnahme besonderer Lebensumstände und ihrer Bewältigung. Sie registriert das Wesenhafte mit einer Nüchternheit, die immer wieder ins Poetische oder gar Fantastische mündet. Entgegen einem meist von westlichen Vorurteilen durchsetzten Blick zeichnet er ein vielschichtiges und komplexes Bild der Auswirkungen von klimatischen, politischen und ökonomischen Kräften auf den postkommunistischen Raum. Auf seinen Reisen arbeitet Beat Schweizer oft mit dem Schriftsteller Urs Mannhart an selbstpublizierten Reportagen. Der bewusste Umgang beider Autoren mit Bild und Text und das Experimentieren mit unterschiedlichen Publikationsformen markiert eine eigenständige Positionierung im Feld einer erweiterten und selbstreflexiven dokumentarischen Praxis. Die COALMINE zeigt den seit 2012 entstandenen Werkzyklus erstmals in sämtlichen Kapiteln in Form neu edierter Lambda-Prints.

Der Ausstellungstitel «Anzeichen der Verlässlichkeit» ist inspiriert vom Slogan «Символ надежности» («Symbol der Verlässlichkeit»), mit dem Nornickel, der grösste Arbeitgeber in Norilsk, auf Plakaten wirbt. Die Menschen in Norilsk, aber auch in Teriberka und Dikson, verlassen sich auf das Versprechen von Staat und Arbeitgebern, dass ein Leben an diesen widrigen Orten weiterhin möglich bleibt. Die Kehrseite der Verlässlichkeit ist die Angst, keine Arbeit zu finden, sollten sie an einen anderen, südlicheren Ort ziehen wollen. Sie sind in diesem Versprechen der Verlässlichkeit gefangen. So hat der Titel durchaus eine Ambivalenz.

Die Ausstellung wird von Sascha Renner kuratiert.

Biografie
Der Fotograf Beat Schweizer (geb. 1982) lebt und arbeitet in Bern und verfolgt nebst der Auftragsfotografie eigene dokumentarische Projekte. Seine Magazine, meist im Zeitungsformat und mit Texten des Schweizer Schriftstellers Urs Mannhart, bilden ein starkes Merkmal seiner künstlerischen Ausdrucksform. 2003–2007 Berufslehre als Fotograf, seither selbständiger Fotograf. Ausstellung freier dokumentarisch-künstlerischer Projekte in der Schweiz, England und Russland. Auszeichnungen: Stipendium Enquete photographique, Photoforum PasquArt (2009), Stipendium für bildende Kunst, Fotografie und Architektur 2016/17 des Kantons Bern (2016); Werkbeitrag des Kantons Bern für Fotografie (2012); 3. Platz Kategorie Ausland, Swiss Press Photo Award (2012); 3. Platz Kategorie Free, EWZ Selection – Swiss Photo Award (2014); 2. Platz Kategorie Reportage, EWZ Selection – Swiss Photo Award (2015); 1. Platz Kategorie Editorial, Swiss Photo Award – The Selection (2016); Werk-Buch / Oeuvre d’artiste des Kantons Bern (2018)

Publikation
Zur Ausstellung erscheint folgende Publikation, die an der Buchvernissage am 20. Dezember um 18 Uhr in der COALMINE präsentiert wird: Beat Schweizer: Anzeichen der Verlässlichkeit, mit Texten von Urs Mannhart, Kehrer Verlag, 2018.

Buchvernissage und Lesung mit Beat Schweizer und Urs Mannhart: 20. Dezember, 18 Uhr